Bis vor wenigen Jahren war unsere Kenntnis über die biologischen Vorgänge der Krebsentstehung gering. Zwar wußten wir: Krebs ist eine Zellkrankheit, er beruht auf Entartung von Körperzellen, die durch ungeregeltes Wachstum und Teilung einen Tumor bilden. Und durch viele schlechte Erfahrungen kennen wir auch die Umweltfaktoren, die durch Schädigung der Erbsubstanz diese Entartungen auslösen. Aber was bedeutet das im Detail? Um welche Schäden geht es, und wie können sie ein so komplexes Verhalten verursachen, wie wir es von lebenden und metastasierenden Krebszellen kennen? Und: könnten die Ärzte das nicht beeinflussen?

Diese Fragen sind in den letzten 16 Jahren, seit der Jahrtausendwende erstmals beantwortet worden. Ganze neue Wissenschaften wie die Onkogenetik und die Bioinformatik wurden entwickelt, und aus einem Wust von unorganisierten Daten kristallisiert sich langsam, aber sicher eine Struktur heraus: die Biochemie der Krebszellen.

In einer kleinen Serie von sechs Blogbeiträgen möchte ich diese Erkenntnisse darstellen. Sie sind aus einem Vortragsmanuskript entstanden, welches ich Anfang 2016 geschrieben habe – wir werden sehen, wie lange das aktuell bleibt…

Heute beschäftige ich mich mit den Schaltplänen der Zelle:

Signalpfade

Zellen sind nur auf der Glasscheibe flach, „spiegeleiartig“. Im Gewebe haben sie straffe, organisierte Strukturen, sie können sich bewegen und verformen, und die Konsistenz ist vergleichbar mit einer Jakobsmuschel (30% Eiweißanteil!), die Form ähnelt einer Klette oder Kastanie.

Jede Zelle hat in unserem vielzelligen Organismus eine bestimmte Aufgabe. Muskelzellen müssen sich auf Kommando zusammenziehen, Magenzellen müssen Säure produzieren usw.. Damit sie weiß, was gerade zu tun ist, kommuniziert jede Körperzelle beständig mit ihren Nachbarn. Dazu dienen Signalmoleküle und Empfänger (Rezeptoren) dafür auf der Zelloberfläche. Die Nachrichten werden an der Oberfläche aufgenommen und über Serien von chemischen Reaktionen in das Zellinnere, bis in den Kern transportiert.

Im Zellkern wird zu jeder Aufgabe die zugehörige Erbsubstanz ausgelesen und passende Proteine hergestellt.

Auch gesunde Zellen müssen teilungsfähig bleiben (jedenfalls die Stammzellen). Denn 5 Mio pro Sekunde absterbende Zellen müssen ersetzt und ggf. auch größere Lücken zB nach Verletzungen geschlossen werden. Wachstum und Teilung gehören also auch zu den Aufgaben, die durch Signale gesteuert werden.

Es sind Mechanismen, die schon die ersten Mehrzeller vor 600 Mio Jahren entwickelt hatten und die bis heute in allen Lebewesen von der Bäckerhefe bis zum Menschen gleich sind. Diese Mechanismen, sogenannte Signalpfade, passen das Wachstum an ihre Umgebung an.

Sie reagieren auf Botenstoffe von anderen Zellen, die beispielsweise die Nachricht „Verletzung!“ weitergeben. Im Gegenteil reagieren andere Rezeptoren auf Kontakt zu Nachbarzellen, das heißt, bei Kontakt stellt die Zelle ihr eigenes Wachstum ein.

Es gibt etwa 7000 verschiedene Proteine in jeder Zelle, aber nur ca. zwei Dutzend für das Wachstum wichtige Signalpfade. Sie sind alle miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig als Netzwerk. Ganz unten arbeitet im Zellkern die sogenannte Zyklusuhr, wie ein Zahnrad, dass man anhalten und wieder starten kann, und nach jeder “Drehung” teilt sich die Zelle in zwei Tochterzellen.

Alle im Ras-Pfad beteiligten Moleküle sind kompliziert verknäulte Eiweißkörper, die durch ihre spezielle Form chemische Reaktionen katalysieren können, also Enzyme. Sie bestehen jedes aus hunderten von Aminosäuren. Sequenz und räumliche Struktur sind heute vollständig aufgeklärt.

Die Rezeptoren sind sogenannte Kinasen, d.h. sie übertragen energiereiche Phosphatgruppen. Das Zielmolekül verändert dadurch seine Form und wird seinerseits chemisch reaktiv, oft wieder als Kinase.

Der Ras-Weg geht von der Membran bis zum Zellkern über vier Schaltglieder, alles Kinasen. im Zentrum steht das Molekül Ras, ein knollenförmiges Protein aus  ca. 190 Aminosäuren mit einer reaktiven Spalte. Wenn dort phosphattragendes GTP gebunden wird, ist Ras aktiviert vergleichbar mit einem eingeschalteten Lichtschalter. Sein Signal wird an die nächste Kinase weitergeben. Die aktiviert das übernächste Molekül und so weiter. Im Zellkern angekommen, lösen sich hemmende „Bremsklötze“ von der DNA, die die Translation blockiert hatten. Eiweiß wird produziert, und die Zelle beginnt zu wachsen.

Ras ist dabei ein besonderer Schalter, denn es spaltet sein GTP nach wenigen Sekunden wieder ab und unterbricht damit das Signal. Ein Schalter, der sich selbst abschaltet, wie die “useless box”, die man als Spielzeug kaufen kann. Ras stellt so sicher, dass der Wachstumsreiz nur solange im Zellinneren bearbeitet wird, wie außen tatsächlich neue Wachstumsfaktoren ankommen.

Der Name des Proteins kommt von rat sarcoma, wo es entdeckt wurde. Leider sind solche Namen für Gene und Proteine völlig willkürlich und unsystematisch gewählt worden.

Was passiert nun, wenn das Gen, welches Ras kodiert, eine Mutation erfährt? Entweder ist das gebildete Protein dann defekt, die Zelle wächst nicht. Oder nur der Selbstabschalter ist defekt – dann schaltet das Signal nie ab, Ras ist ständig aktiv und die Zelle bekommt über den Ras-Signalpfad ein kontinuierliches Wachstumssignal. Das passiert, wenn in der der aktiven Spalte des Ras-Moleküls eine bestimmte Aminosäure falsch eingebaut wurde (Punktmutation). Man findet diese Ras-Mutation in jedem dritten Krebs. Deswegen glauben wir, dass Ras – wenn es beschädigt ist – zu den wichtigsten krebserzeugenden Genen gehört, zu den Onkogenen.

Bei zwei Dutzend Signalpfaden, die in jedem Abschnitt schaden nehmen können, sollte es mindestens 100 weitere Onkogene geben. Bisher sind etwa 60 entdeckt worden, indem man in Reihenuntersuchungen Krebszellen nach Mutationen durchsucht. Fast alle sind zufällig, aber manche Mutation tauchen immer wieder auf. Sie sind auf so ein Onkogen, also ein defektes Signalprotein, verdächtig.

Im nächsten Beitrag sehen wir, wie bestimmte Genschäden diese Signalproteine und Pfade stören: Gene, Pfade, Moleküle II: Mutationen.