Onkologische Forschung ist normalerweise mühsame Kleinarbeit im Labor und in der Klinik. Zellkultur, Tierversuch, klinische Studien, und wieder von vorn. Doch einmal im Jahrzehnt gelingt jemandem ein großer Wurf: eine Idee, die unser Verständnis vom Krebs erneuert.

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Dazu gehört die historische Arbeit von Armitage & Doll von 1954, die erstmals bewiesen, dass Krebs entsteht, inden einzelne Zellen durch eine Serie von aufeinanderfolgenden, unabhängigen Schäden entarten. Oder das Paper von Fearon und Vogelstein, die 1990 herausfanden, dass diese „Schäden“ Mutationen bestimmter Signalmoleküle sind, die sich im Lauf des Lebens ansammeln, und von denen mindestens vier oder fünf erforderlich sind, damit eine Krebszelle entsteht. Oder Tsve Lapidot, der 1994entdeckte, dass es die Stammzellen sind, die eigentlich abgestorbenes Gewebe ersetzen sollen, nun aber mit steigendem Lebensalter immer mehr DNA-Defekte ansammeln und schließlich zu Krebszellen werden.

Woher kommen aber die Mutationen? Enstehen sie zufällig durch Fehler bei der Zellteilung, beim Verdoppeln der DNA? Oder sind die meisten DNA-Fehler im Erbgut schon bei der Geburt angelegt, von den Eltern ererbt? Oder sind es eher die mutagenen Umwelteinflüsse, etwa das Zigarettenrauchen, die die größte Rolle spielen?

Vor einigen Tagen ist es wieder einem Team von Kollegen gelungen, einen großen Schritt voranzukommen. Bert Vogelstein (derselbe wie 1990) und Cristian Tomasetti aus Baltimore haben mit einer genialen Idee dieGewichtung des Faktors „zufällige Mutation“ bei drei Dutzend häufiger Krebserkrankungen abgeschätzt.

Sie haben die Konzentration von Stammzellen jedes Gewebes (z.B. Dickdarm, entnommen aus der Fachliteratur) gegen das Lebenszeitrisiko für Krebs in diesem Gewebe (entnommen aus der amerikanischen SEER-Datenbank) aufgetragen.

Die Abbildung zeigt, dass die beiden Werte stark korrelieren, d.h. je mehr Stammzellen ein bestimmtes Gewebe hat, desto höher ist sein Krebsrisiko. Der Korrelationskoeffizient ist mit 0.8 sehr hoch.

Das bedeutet: die alternden Stammzellen selbst – auf die wir natürlich nicht verzichten können – sind unser Hauptrisiko. Einige Gewebsarten sind darüberhinaus auch für Erbfaktoren anfällig, z.B. der Dickdarm auf erbliche Polyposis. 5% aller Krebserkrankungen sollen erblich bedingt sein. Andere Gewebe können durch Umweltfaktoren entarten, z.B. wird Lungenkrebs durch Rauchen viel häufiger.

Um diesen Beitrag abzuschätzen, haben die Autoren die Werte für Krebsrisiko und Stammzellanzahl multipliziert. Ein hoher Wert bedeutet, dass Erbgut und Umwelt , also deterministische Krebsursachen,  eine gewisse Rolle spielen; ein niedriges Produkt bedeutet, dass stochastischeZufallsmutationen die alleinige Ursache sind. Selbst bei typischen deterministischen Krebsarten (die Autoren nennen sie „D-tumors“) wie Lungenkrebs spielen zufällige Mutationen der Stammzellen aber immer noch zahlenmäßig die größte Rolle.

Achtung: die Aussage ist nicht „zwei Drittel aller Krebsfälle entstehen durch Zufall“. Sondern: „zwei Drittel der Mutationen, die zur Krebsentstehung beitragen, sind zufällig“.

Weil dieser Unterschied vielen Lesern zunächst nicht klar war, haben die Autoren eine erklärende Pressemitteilung veröffentlicht. Sie vergleichen das Risiko, an Krebs zu erkranken, mit der Gefahr, einen Autounfall zu erleiden: selbstverständlich tragen Umgebungsvariablen wie Glatteis, Alkohol, etx. zu vielen Unfällen bei. Aber das Hauptrisiko entsteht durch die insgesamt gefahrene Strecke – je mehr man fährt, desto höher ist das Unfallrisiko.

Maßnahmen gegen umwelt- und lebensstilbezogene Krebsrisiken bleiben sinnvoll. Aber sie können nicht verhindern, dass bestimmte Organe mit zunehmendem Lebensalter gegen Krebserkrankungen immer anfälliger werden. Solange wir Stammzellen haben, die sich teilen, solange tragen wir das Risiko von Mutationen.

Tomasetti und Vogelstein ziehen am Schluß ihrer brillianten Arbeit das Fazit, man könne anhand ihrer Ergebnisse vielleicht abschätzen, welche Vorbeugungsmaßnahmen gegen Krebs effektiv sind: Primärprevention gegen die Auslöser, oder Sekundärprävention mit Früherkennungs-Screening.