Seymour Mikich erlitt nach einem Bauchhöhleneingriff eine Bauchfellentzündung, Harnleiterverengung, und weitere Komplikationen, konnte erst nach drei Monaten entlassen werden. Ein paar Zitate, wie sie diese Zeit wahrgenommen hat:

(Über die Krankenkost:) „Versorgung, die bestenfalls als Nahrungsmittelzufuhr bezeichnet werden kann… fast alles, was ich in den nächsten Wochen ausprobiere, ist trostlos schlecht.“ (Über die Hygiene:) „überall Flecken, Staubflocken, Schmier. Tagelang starre ich auf einen alten Blutflecken auf dem Fuß des Infusionsständers.“ (Über Gespräche mit Ärzten:) „Mich schockieren die verwirrenden medizinischen Termini, … alles im rational-paternalistischen Tonfall… ich muss unterschreiben, dass … jeder Murks meine eigene Schuld ist.“ (Über die Koordination der verschiedenen Abteilungen:) „Akte [wird] wie eine Monstranz herumgetragen – aber nicht gelesen… Der Patient ist für die Kommunikation von Arzt zu Arzt, Abteilung zu Abteilung, Schwester zu Schwester selbst zuständig.“ (Über die Betreuung am Wochenende:) „Am frühen Nachmittag liege ich wieder im Einzelzimmer, … abends besuchen mich endlich zwei diensthabende Ärzte … sonntags gibt es offenbar keine Laborwerte.

The Doctor exhibited 1891 Sir Luke Fildes 1843-1927 Presented by Sir Henry Tate 1894 http://www.tate.org.uk/art/work/N01522

The Doctor Sir Luke Fildes http://www.tate.org.uk/art/work/N01522

Seymour Mikich macht ihre Kritik nicht an den konkreten Krankenhausmitarbeitern fest, sondern bringt sie auf den gemeinsamen Nenner der „Klinikmaschine„. Der Mensch werde in dieser Maschine zum Material; denn Menschlichkeit lasse sich nicht beziffern und abrechnen.

An anderer Stelle geißelt die Journalistin die Ökonomisierung der Gesundheit: „Es gibt einen Konflikt zwischen Patientenwohl und wirtschaftlichen Interessen. Man geht dahin, um gesund zu werden und gerät in eine Industrie.“ Mit anderen Worten werden „Krankenhäuser [zu] Operations-Fabriken…, Ärzte zu Fall-Managern und Patienten zu einer begehrten Ware.

Das stimmt, und es ist für uns Ärzte so alltäglich und offensichtlich, dass ich mich frage, wie es kommt, dass Mikichs Bericht derartige Aufmerksamkeit erfährt. Weil sie kritisch, eloquent und privatversichtert ist? Weil sie nicht in einer obskuren Privatklinik, sondern in einem renommierten großstädtischen 1000-Betten-Haus lag?

Oder spricht aus dem Text eine grundlegende Verständnislosigkeit zwischen Patienten und Medizinern? Der unerfüllte Wunsch, beides zugleich haben zu können: einen durchstrukturierten, leitliniengerechten Behandlungsprozeß mit definiertem Ergebnis, und den Arzt mit Adlerblick auf den individuellen Menschen (Mikich), der am Krankenbett sitzend, Schutzpatron und Vaterfigur zugleich ersetzend, alle Verantwortung für den Kranken auf sich lädt…

Auch Ärzte sind manchmal Patienten, und Seymour Mikich spricht uns allen aus der Seele: sie artikuliert, was jeder zu wissen glaubt: dass die im 20. und 21. Jahrhundert industrialisierte, taylorisierte Medizin diese Arztfigur eingespart hat, deshalb ist sie unmenschlich geworden.

Aber das ist nur ein Märchen, es idealisiert den furchtbaren Zustand der Krankenbehandlung in den früheren Jahrhunderten. Ärzte standen damals nur den Reichen zur Verfügung. Sie arbeiteten auf Basis von überlieferten Theorien, mit ungeeigneten Heilmitteln. Die Krankenpflege oblag den Angehörigen. Krankenhäuser waren Sterbehäuser. Der gemütliche Hausarzt, die umsorgende Krankenschwester sind ein Trug – sie konnten den Menschen nicht wirklich helfen.

Seymour Mikichs Text ist in meinen Augen also ebenso brilliant wie ungerecht. Doch eines ist wahr: es mag nie eine bessere Medizin gegeben haben als heute, aber wir achten zuwenig auf Menschlichkeit und Empathie. Darin sind wir ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, und es wird deshalb nicht damit getan sein, mehr Geld ins System zu pumpen.